Was ist eigentlich Tradition? Müssen wir sie kennen? Und wenn Ja, reicht es sie nur zu kennen oder müssen wir sie auch können?
Fragen, die im Jazzdiskurs allgegenwärtig und auch für das alltägliche Leben eines jeden Einzelnen immanent wichtig sind. Denn wie auch immer wir es drehen und wenden, unser Leben und die Existenz ganzer Kulturen baut sich auf Traditionen auf und kann sich nicht unabhängig von ihnen entwickeln.
Aus diesem Grund ist es für Marco Sickinger so wichtig, diese Fragestellung mit ihrer Musik in den Mittelpunkt zu rücken und sie gemeinsam mit seinen Mitmusikern neu zu diskutieren.
Der Schlagzeuger Marco Sickinger, der auch Komponist und Arrangeur der an diesem Abend gespielten Musik ist, setzte sich intensiv mit Jazzstandards auseinander. Dekonstruktiv zerlegte er die Stücke und setzte sie auf Basis einer tieferliegenden Struktur zu neuen Kompositionen zusammen. Heraus kommt eine Klangwelt, die sich oft abstrakt aber manchmal auch in Schönheit zeigt, die mal unbekannt und plötzlich wieder sehr vertraut daherkommt. Dabei werden die Rollen der einzelnen Instrumente gleichwertig verteilt. Solist und Begleitung verschwimmen und werden zu einem gemeinsam atmenden Gebilde. Als diese gemeinsame Einheit macht sich das Ensemble auf die Suche nach musikalischer Freiheit, die jedoch in ständigem Dialog mit der Tradition steht.
Ob die Antworten auf die eingangs gestellten Fragen an diesem Abend gefunden werden, wie vieler Abende es bedarf oder ob sie sowieso nie beantwortet werden können, bleibt offen. Fest steht jedenfalls, dass wir die Erben dieser Tradition sind und mit ihr leben müssen - ob wir sie nun kennen oder nicht.
So ist dieses Konzert eine Einladung mit einzusteigen in die Diskussion um die Frage unseres Seins, an der sich beteiligt werden darf und wer weiß - möglicherweise führt sie zu ungeahnten Antworten…